Kathrin Gärtner ist studierte Psychologin, hat lange Jahre als amtliche Statistikerin gearbeitet und unterrichtet nun Studierende jeden Alters in sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden und Sexualwissenschaft.
Auf ihrem Blog Sex seriös verbindet sie ihre Leidenschaft für methodisch gutes Forschen mit ihrem Interesse an menschlicher Sexualität in all ihren Ausformungen.
Ich kenne Kathrin noch aus „früheren Zeiten“ und habe sie daher um ein kleines (schriftliches) Interview gebeten. Nachfolgend meine Fragen an Kathrin und ihre Antworten.
Wie würdest du Sexualforschung einem/einer Lai/in erklären?
Ich glaube Laien haben eigentlich eine ganz gute Vorstellung davon, was Sexualforscher*innen tun. Mit einer Ausnahme vielleicht: wirklich anderen Menschen beim Sex zuschauen tun sie heute nur noch in Ausnahmefällen. Das hat Kinsey gemacht, das haben Masters und Johnson gemacht; entweder man weiß heute, was dabei zu erfahren möglich ist, oder man traut sich das nicht mehr. Aber man kann Menschen ja auch fragen, was sie im Bett (und außerhalb des Bettes) mit wem tun und getan haben und wie sie das empfunden haben. Oft machen Sexualforscher*innen das mit standardisierten Fragebögen, manchmal auch mit offeneren Interviews. Und interessanterweise bekommen sie da in der Regel sehr ehrliche Antworten.
Andere Sexualforscher*innen experimentieren auch, z.B. indem sie ihren Proband*innen bestimmte Bilder oder Filme zeigen und dann ihre Erregung messen oder sich anschauen, welche Gehirnregionen aktiv sind. Ja und dann würde ich auch Wissenschaftler*innen zu den Sexualforscher*innen zählen, an die ein Laie wahrscheinlich nicht denkt, wenn er/sie den Begriff Sexualforschung hört: den Kommunikationswissenschaftler, der sich anschaut, wie über Polyamorie in der der Zeitung geschrieben wird, die Kunsthistorikerin, die sich anhand von Gemälden Gedanken über die die Wahrnehmung homosexueller Praktiken in der Antike macht oder der Ökonom, der sich anschaut, welchen theoretischen Nutzen es haben könnte, sexuelles Handeln als Handeln auf Märkten zu beschreiben.
Insgesamt also ein ziemlich breites Feld mit ganz unterschiedlichen Fragen, Methoden und Ergebnisse. Allen gemeinsam ist, dass es um Sex geht. Und was Sex ist muss ich jetzt hoffentlich nicht erklären. Das wäre nämlich wiederum ganz schön schwierig.
Was sind für dich die interessantesten Erkenntnisse, die uns die Sexualforschung bietet?
Oh da gibt es vieles – und ich bin ja noch ganz am Anfang meiner Recherchen. Zuletzt beeindruckt hat mich etwa ein Artikel darüber, wie Frauen mit Gebärmutterkrebs und daraus resultierenden sexuellen Schwierigkeiten durch Achtsamkeitsübungen geholfen werden kann, wieder Erregung wahrzunehmen und dadurch auch wieder ein erfülltes Sexualleben zu haben (hier ein Interview dazu). Oder eine Studie über die sexuellen Phantasien der Amerikaner*innen, in der sich gezeigt hat, dass Republikaner*innen besonders häufig von Gruppensex und vom Fremdgehen träumen, während bei Demokrat*innen BDSM-Phantasien besonders verbreitet sind. Tabuisierte Dinge und Dinge, die wir nicht haben können, scheinen sexuell also besonders interessant zu sein.
Sehr wichtig finde ich auch Erkenntnisse, die helfen, bestimmte Neigungen und Verhaltensweisen zu enttabuisieren und vor allem zu entpathologisieren (=klarzustellen, dass es sich dabei nicht um krankhaftes Verhalten handelt). So hat sich in den letzten Jahren zum Beispiel herausgestellt, dass Pornographienutzung ziemlich sicher nicht zu Erektionsschwierigkeiten führt, dass Menschen, die BDSM mögen, nicht „gestörter“ sind als andere, und dass Pornodarstellerinnen nicht häufiger als andere Frauen in ihrer Kindheit sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren.
Was sollten wir noch viel mehr erforschen?
Relativ gut erforscht sind die Bereiche, in denen es irgendwie ein Problem gibt oder zumindest eines vermutet wird: Warum verwenden bestimmte Personengruppen seltener Kondome? Wie kann man sie motivieren, es doch zu tun? Wie kann pädophilen Menschen geholfen werden, nicht zu Täter*innen zu werden? Machen Pornos süchtig? Wie verbreiten sind sexuell übertragbare Krankheiten? Insgesamt zeichnet diese Art von Forschung – so wichtig sie ist – ein ziemlich beängstigendes, unerfreuliches Bild von Sexualität. Deswegen finde ich, dass die „normalen“, erfreulichen Seiten von Sex viel stärker erforscht werden sollten: Welche sexuellen Phantasien haben Menschen? Wie viele Menschen hatten schon Sex mit Menschen desselben Geschlechts und wie haben sie das empfunden? Wie verändert sich Sexualität im Lauf des Lebens? Wer sind eigentlich die Menschen, die Tantra- oder Fesselkurse besuchen und was gibt ihnen das? Welche Möglichkeiten, ein befriedigendes Sexualleben zu haben, haben Menschen mit einer erektilen Dysfunktion? Wie ist Sex im Alter? – Ja vor allem Sex im Alter ist bislang noch viel zu wenig erforscht. Glauben wir ältere Menschen haben keinen Sex mehr? Oder finden wir sie bräuchten/sollten ihn nicht haben?
Ganz zentral fände ich in diesem Zusammenhang große nationale möglichst repräsentative Erhebungen, in denen in regelmäßigen Abständen Dinge gefragt werden wie sexuelle Orientierung, sexuelle Praktiken und die sexuelle Zufriedenheit, gemeinsam mit Informationen zu Gesundheit und Diskriminierungserfahrungen. Auf einer Konferenz habe ich letztes Jahr gelernt, dass es in Großbritannien fast 20 Studien gibt, die die sexuelle Orientierung erfragt haben. In Österreich ist mir keine einzige bekannt.
Sexualität ist mit vielen Emotionen versehen. Wie schafft man es den sachlichen Abstand zu halten um objektiv forschen zu können?
Ja stimmt, Sexualität hat viel mit Gefühlen zu tun, vor allem auch mit moralischen Gefühlen. Und natürlich haben Sexualforscher*innen selbst auch Gefühle und moralische Einstellungen den Themen gegenüber, das sie erforschen (ich würde denken, sie sind da etwas liberaler eingestellt, als andere Menschen, aber es gibt da auch andere Beispiele). Damit kann man (wie generell in den Sozialwissenschaften, wo ja auch sonst oft emotional aufgeladenen Themen untersucht werden) unterschiedlich umgehen. Zum einen kann man versuchen, durch möglichst objektive Instrumente und Befragungsformen (z.B. online- Fragebögen mit standardisierten Fragen) sicherzustellen, dass die Versuchspersonen möglichst wenig von den individuellen Werten und Annahmen der Forschenden beeinflusst werden. Das System der Peer-Reviews bei wissenschaftlichen Journals trägt zusätzlich dazu bei, dass möglichst nur Studienergebnisse veröffentlicht werden, die nachvollziehbar sind und mit möglichst objektiven Methoden erzielt wurden.
Die zweite, eher in qualitativen Forschungstraditionen beheimatete Strategie besteht darin, die eigenen Grundannahmen, Erfahrungen und auch moralischen Einstellungen bezüglich des Themas explizit zu machen, damit Leser*innen selbst entscheiden können, wie sie die beschriebenen Ergebnisse bewerten wollen.
Grundsätzlich ist gute Wissenschaft für mich etwas, wo nicht nur einfach irgendetwas behauptet wird, sondern nachvollziehbar beschrieben wird, wie jemand zu den Ergebnissen gekommen ist. Ein wichtiges Merkmal von wissenschaftlicher Integrität ist, dass man sich auch mit Ergebnissen auseinandersetzt, die einem selbst nicht in den Kram passen. Daran kann man sich nur immer wieder selbst und gegenseitig erinnern.
Beobachtung verändert das beobachtete Objekt/Subjekt heißt es in anderen Wissenschaften? Ist das nicht gerade in der Sexualforschung ein Problem?
Wie oben schon erwähnt, wird in der Sexualforschung kaum noch beobachtet. Also zumindest nicht direkt wie Menschen miteinander Sex haben. Aber auch Fragebogenstudien oder Interviews können einen Einfluss auf die Menschen haben, die an der Studie teilnehmen, da unterscheiden sich die Sexualwissenschaften nicht von anderen Sozialwissenschaften. Zu einem Problem für die Forschung selbst wird es dann, wenn Menschen mehrfach befragt werden. So konnten bei einer Studie zum Thema „selbst diagnostizierte Pornosucht“ 40% der Befragten nicht für die Folgebefragung herangezogen werden, weil sie angegeben haben, inzwischen keine Pornos mehr zu schauen. Das könnte durchaus ein Effekt der ersten Befragung sein und man mag sich fragen, was sie sonst noch alles bei den Probanden geändert hat, was nun die Ergebnisse der zweiten Befragungswelle verfälschen könnte.
Wenn Beobachtung das beobachtete Subjekt verändert, dann kann das aber auch ein ethisches Problem sein. So kann man sich zum Beispiel fragen, ob es ethisch vertretbar ist, Jugendliche nach ihrem Pornokonsum zu fragen, oder ob man sie dadurch erst auf „blöde Ideen“ bringt. Eine ganz aktuelle Studie aus Kroatien hat aber erst vor kurzem gezeigt, dass Jugendliche, die nach ihrem Pornokonsum gefragt werden, anschließend nicht häufiger Pornos schauen.
Ganz generell würde ich sagen, dass sexualwissenschaftliche Forschung, wie jede sozialwissenschaftliche Forschung, ihre Objekte/Subjekte durchaus beeinflussen kann. Da ich aber Sexualität für ein soziales Phänomen halte und andere Einflüsse für wesentlich bedeutsamer, sehe ich hier kein grundsätzliches Problem.
Du schreibst in deinem Blog, dass du über Sexualität als etwas Normales schreiben möchtest, ganz unaufgeregt. Was heißt das für dich als Bloggerin?
Das heißt für mich zum Beispiel, dass ich das Thema Sex nicht ins Lächerliche ziehen möchte. Wir neigen ja dazu, über Dinge Witze zu machen, die uns peinlich sind. Sexualität als etwas Normales anzusehen, heißt für mich nicht, dass es immer todernst zugehen muss. Es heißt aber schon, dass der sogenannte „anzügliche Witz“ bei mir draußen bleiben muss. Das ist die eine Sache. Die andere ist fast noch wichtiger: ich möchte Sex nicht skandalisieren. Ganz zu Beginn meiner Arbeit an meinem Blog habe ich mal eine Recherche zum Thema Pornographie-Forschung gemacht und dabei auch nach Zeitungsartikeln gesucht. Da titelte eine Zeitung: „Dieser Professor bezahlt Studenten fürs Pornoschauen!“ Ich habe mich danach nicht mehr gewundert, dass die betreffenden Wissenschaftler skeptisch waren, wenn es um Pressanfragen ging.
Für mich als Bloggerin heißt das aber auch, auf meine Sprache zu achten und immer wieder zu überlegen, welche Begriffe jetzt angemessen sind. Ich schreibe ja weder erotische Texte, noch medizinische Fachartikel. Das heißt, ich muss Begriffe finden und verwenden, die „normal“ sind. In Sachen Sex ist das manchmal gar nicht so einfach.
Mit „Liebe Sünde“ und „Wa(h)re Liebe“ gab es um die Jahrtausendwende eigene Fernsehmagazine, die sich dem Thema Sexualität in vielen Facetten widmeten. Hättest du eine Idee, wie man 2019 so ein Format aufsetzen müsste?
Ach ja, Liebe Sünde und Wa(h)re Liebe! Vor kurzem habe ich mit einem jüngeren Kollegen gesprochen, der das nicht kannte. Da wusste ich: jetzt bin ich alt! Woran ich in diesem Zusammenhang noch merke dass ich alt bin: die Titel gingen heute so wohl nicht mehr: von Liebe zu sprechen, wo es eigentlich um Sex geht, das würden die Zuseher*innen einem heute wohl nicht mehr durchgehen lassen. Und dann war ja bei diesen Sendungen auch nie ganz klar, worum es geht: um Information, um das aufregende Skandalöse oder gar um die Erregung, die der Blick hinter die Kulissen beispielsweise eines Swingerclubs verspricht. Letzteres würde heute, in Zeiten der Internetpornographie, wahrscheinlich nur noch ein müdes Lächeln hervorrufen.
Trotzdem glaube ich, dass solche Formate grundsätzlich nach wie vor möglich wären und tatsächlich gibt es sie auch schon, allerdings nicht im Fernsehen sondern im öffentlich finanzierten Youtube Kanal Y-Kollektiv. Da gibt es ziemlich spannende und gleichzeitig unaufgeregte Beiträge über Swinger, über Tantra und über BDSM/Fetisch. Letzterer sogar inklusive eines Besuchs bei einem Sexualforscher, der bestätigt, dass gegen einvernehmliche BDSM-Praktiken absolut nichts einzuwenden ist. Ungefähr so würde ich mir einen medialen Umgang mit diesem Thema wünschen.
Dein Blog ist ja erst wenige Monate alt. Wie ist es Dir bisher ergangen und wie soll es weitergehen?
Am Anfang hatte ich ziemlich ehrgeizige Ziele. Ich wollte jede Woche (mindestens) einen Beitrag posten. Gleichzeitig habe ich aber hohe Ansprüche an meine Postings: Sie müssen gut recherchiert und belegt sein und den Stand der Forschung korrekt wiedergeben. Das hat mir ziemlichen Stress gemacht und war auf Dauer so nicht durchzuhalten. Seit ein paar Wochen habe ich zudem einen neuen zeitaufwändigeren Job, und nachdem ich es irgendwann überhaupt nicht mehr geschafft habe, regelmäßig zu bloggen, habe ich mich jetzt entschieden, mir selbst weniger Druck zu machen. Zumal ich ja jetzt auch noch nicht so wahnsinnig viele Leser*innen habe. Gut recherchiert sollen die Beiträge nach wie vor sein, aber es reicht vollkommen, wenn ich alle 2-3 Wochen einen neuen Beitrag fertig habe oder auch mal was Kürzeres poste.
Wichtig ist, dass es für mich selbst interessant bleibt und nicht zu einer Last wird. Besser werden will ich natürlich trotzdem: Gerade was die Lesbarkeit angeht kann ich als jemand, die bisher hauptsächlich statistische und wissenschaftliche Texte geschrieben hat, sicher noch viel lernen.
Und zum Thema Sexualität lernt Mensch sowieso nie aus!